Versuche und Visionen: Entwürfe für die Stadt von morgen

Ein Großteil der umweltschädlichen Emissionen auf unserem Planeten entsteht in Städten. Bei dem Versuch, diese Emissionen zu reduzieren, übernimmt vor allem die städtische Mobilität eine wachsende Bedeutung. Von Bussen mit Wasserstoffantrieb und intelligenten Ampelsystemen bis zum Umdenken in der Stadtplanung und datengesteuerten Velorouten: Auf der ganzen Welt entwickeln Städte schon jetzt Ansätze für mehr Umweltschutz. So können sie zu Orten werden, an denen es sich besser leben und arbeiten lässt.

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Unter Stadtbewohnern macht sich jedoch zunehmend das Gefühl breit, dass die gewünschten Lebensbedingungen nicht mehr erfüllt werden, wenn es um intelligente Verkehrslösungen und die Reduzierung von Emissionen geht. Eine aktuelle Umfrage unter mehr als 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in 58 Städten zeigt das Ausmaß dieser Unzufriedenheit: Ein Drittel aller Befragten gab an, dass sie in Betracht ziehen, aus ihrer Stadt wegzuziehen. Mehr als ein Drittel (38%) zeigte sich besorgt darüber, wie lange sie für ihren Arbeitsweg brauchen, und beinahe die Hälfte (42%) erklärte, dass sie die Verschmutzung in ihrer Stadt für abschreckend halten.

Städte tragen überproportional zum globalen Klimawandel bei. Obwohl sie weniger als ein Prozent der Erdoberfläche bedecken, sind Stadtgebiete nach Angaben der IPCC für mehr als 70 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Städte können ihre Größe aber auch zu ihrem Vorteil nutzen: So können sie ihre Bewohner, Unternehmen und weitere wichtige Stakeholder mobilisieren, um konsequente Initiativen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes umzusetzen. Da zudem nur 100 der größten Städte weltweit bereits zehn Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen verursachen, können schon einige wenige Stadtverwaltungen die Weltgemeinschaft maßgeblich dabei unterstützen, die globalen Emissionsziele zu erreichen.

Stadtverkehr nachhaltiger gestalten

Rund um den Globus entwickeln Städte unterschiedliche Strategien, ihre Mobilitätsinfrastruktur umweltfreundlicher zu gestalten. Ein wichtiger Weg ist dabei die Nutzung erneuerbarer Energiequellen durch den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). „Wir haben gerade einen Businessplan fertiggestellt, bei dem es um die Umstellung traditioneller dieselgetriebener Buslinien auf Wasserstoffantriebe geht“, so Julien Henault, Automotive-Experte bei Mazars. „So etwas wäre vor zehn Jahren nicht möglich gewesen, weil die Technologie dazu einfach nicht in der Lage war. Jetzt ist sie es.“ Auf der ganzen Welt dienen Städte als Labore, in denen neue und umweltfreundliche ÖPNV-Lösungen erprobt werden: „Innovative Straßenbahnen in La Paz, Bolivien, und Ecatepec, Mexiko, sowie das Wiener Experiment mit autonomen und elektrischen Bussen im Bezirk Seestadt werden sich langfristig auf die Zukunft der nachhaltigen Mobilität in Städten auswirken“, sagt Michael Dessulemoustier-Bovekercke, Partner bei Mazars.

Diese einzelnen Ansätze können auch miteinander vernetzt werden. So wird aus einer Reihe separater Einzellösungen Mobilität zu einem vernetzten (und nachhaltigeren) Angebot. „Eine der ersten Kommunen, die Mobility as a Service (MaaS) eingeführt hat, war Helsinki“, erklärt Dessulemoustier-Bovekercke. „Der gesamte öffentliche und private Nahverkehr wurde in einer App gebündelt, die unabhängig vom Verkehrsmittel eine optimale Route für den Fahrgast vorschlägt.“

Investitionen und Informationen

Warum Investitionen in umweltfreundliche Technologien erforderlich sind, um die Reichweite der erneuerbaren Energien zu erhöhen, erklärt Henault so: „In vielen Ländern, wie z. B. Großbritannien und Frankreich, sorgen regulatorische Vorgaben dafür, dass sich Investitionen in nachhaltigen Stadtverkehr lohnen. Jetzt ist es wichtig, aus diesen Investitionen möglichst viel Umweltfreundlichkeit herauszuholen.“

Städte können Emissionen auch reduzieren und die Mobilität verbessern, indem sie den Energieverbrauch ihrer Verkehrsmittel und Infrastruktur managen und überwachen. „Verkehr, Straßenbeleuchtung, Parkmöglichkeiten, elektrische Mobilität und andere Systeme können in eine gemeinsame Open-Data-Plattform integriert werden“, erklärt Michael Michaelides, Direktor Energie, Infrastruktur & Umwelt bei Mazars. „Diese Plattformen sammeln alle Daten und stellen sie den Behörden, Energie- und Transportunternehmen, ansässigen Unternehmen und Bürgerinitiativen zur Verfügung, damit diese ihre eigenen Lösungen entwickeln können.“ Auf der Basis dieser detaillierten Daten zu ihrem CO2-Fußabdruck können Bürgerinnen und Bürger eine transparente Entscheidung darüber treffen, wie sie sich durch die Stadt bewegen wollen.

Umweltfreundliche Stadtplanung

Die größten Chancen zur Emissionsreduktion, so Michaelides, liegen in der Stadtplanung. Demnach können Städte so gestaltet werden, dass sie den Bewohnern helfen, Energie zu sparen. „Ein großer Teil der CO2-Emissionen in Städten entsteht, weil so viele Menschen pendeln“, sagt er. „Aber Städte können auch anders angelegt sein – dafür entstehen neue Modelle.“ Er verweist auf ÖPNV-orientierte Entwicklung (Transit Oriented Development, kurz TOD) als eine mögliche Lösung: Innerhalb eines Radius von 800 Metern um eine ÖPNV-Station herum entsteht dabei eine konzentrierte Mischung aus Geschäfts-, Wohn- und Bürogebäuden sowie Unterhaltungsangeboten. „Dies gibt den Menschen die Möglichkeit, nahe der Station zu arbeiten, einzukaufen, zu wohnen sowie ihre Freizeit zu verbringen, und sie können fast alle benötigten Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen.“

Im Gegensatz zu dem traditionellen Zentralbahnhof, der häufig – ähnlich einem Flughafen – isoliert von Unternehmen liegt und nur von Parkplätzen umgeben ist, ist eine TOD direkt in die Stadt eingebettet. „Anstatt vom Bahnsteig noch ins Auto umzusteigen und nach Hause zu fahren, können Fahrgäste so direkt ins Büro oder zum Einkaufen gehen“, erläutert Michaelides. „Diese Lösung trägt dazu bei, Emissionen zu reduzieren und schafft auch sichere Umgebungen für Radfahrer und Fußgänger.“ Vor dem Hintergrund der wachsenden Sorge über den Klimawandel und die Verkehrsbelastung sind TODs ein plausibles Modell für die Zukunft der Stadtplanung. „Unser Verhalten in Richtung einer vernünftigeren Ressourcen­nutzung zu verändern, ist eine gute Möglichkeit, um Emissionen zu reduzieren“, fügt Henault hinzu. „Alles, was die Menschen dazu bringt, genau dies zu tun, kann Teil der Lösung sein.“

Intelligentere Verkehrsinfrastruktur im Versuch

Städte können auch künstliche Intelligenz und andere Technologien einsetzen, um Reisezeiten und Emissionen nachhaltig zu reduzieren. Ingenieure der Carnegie Mellon University und der Stadtverwaltung Pittsburgh, USA, haben ein KI-System entwickelt, über das Ampeln miteinander kommunizieren. Während des Experiments hat sich die durchschnittliche Fahrtzeit um bis zu 25 Prozent verringert.

Mit ähnlichen Systemen lassen sich auch die Fahrtzeiten von Bussen reduzieren. In Kopenhagen wurden beispielsweise intelligente Ampelsysteme installiert, die Fahrrädern und Bussen Vorrang gegenüber Autos einräumen. So wurden die Fahrtzeiten der Busse um 20 Prozent verkürzt und in Folge auch Emissionen eingespart.

Auch Straßenzüge mit Datenerfassungssystemen können für neue umweltschonende Initiativen, wie z. B. intelligente Velorouten, eingesetzt werden: In London werten Videosensoren mit künstlicher Intelligenz den Fahrrad- und Fußgängerverkehr an insgesamt 20 Orten aus. Auf diese Auswertungen greifen dann politische Entscheidungsträger zu, um neue Fahrradwege optimiert zu planen.

Innovation und Experimente

Als eine Voraussetzung für solche umweltfreundlichen Initiativen müssen Stadtvertreter, Kapitalgeber, wissenschaftliche Institute, Start-ups und andere Beteiligte zusammen daran arbeiten, dass die Datenerfassung und -nutzung von Anfang an vertrauenswürdig angelegt wird.

Stadtverwaltungen müssen Technologieanbieter, Unternehmer, Umweltschützer und Bürger mit ins Boot holen. Nur mit gemeinsamen Ideen und Innovationen aller Beteiligten kann das wahre Potenzial nachhaltiger Mobilität ausgeschöpft werden. „Das Projekt Smarter Together, unterstützt durch das EU-Programm Horizont 2020, zeigt, wie die Ausgewogenheit zwischen innovativer Technologie, Engagement von Einwohnerinnen und Einwohnern und behördlicher Führung es ermöglicht, smarte und inklusive Lösungen zu entwickeln“, so Dessulemoustier-Bovekercke.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Ein radikaler Wandel der Art, wie wir uns durch die Stadt bewegen, ist nicht nur möglich, sondern überfällig. Die plötzliche Veränderung der Arbeit, des Einkaufs- und des Freizeitverhaltens, durch die Menschen generell mehr Zeit zuhause oder in Laufreichweite verbringen, hat dazu geführt, dass Emissionen radikal reduziert wurden. Niemand erwartet, dass diese Veränderungen dauerhaft sind. Das Jahr 2020 hat dennoch bewiesen, dass eine gemeinsame Strategie und individuelle Entscheidungen im Zusammenspiel zu effektiven Einsparungen bei den Gesamtemissionen beitragen. Diese Erfahrungen helfen dabei, neue Blaupausen für umweltfreundlichere Städte und einen nachhaltigeren Umgang mit dem Planeten zu entwerfen.